Zur Lage im Libanon und in der JLSS

Sehr geehrte, liebe Nahost-Interessierte,

immer wieder werde ich in diesen Tagen gefragt, wie es wohl den EMS-Mitgliedern, unseren Freunden und Partnern im Libanon, ergehen mag. Da ich es einfach nicht schaffe, auf jede Anfrage individuell zu antworten, hier eine kurze Zusammenfassung:

Die Situation im Libanon ist abgrundtief bedrückend. Nach der wirtschaftlichen, politischen und humanitären Mehrfachkrise, die seit dem Volksaufstand vom 17. Oktober 2019 sichtbar wurde, nach Corona, Hyperinflation und Beiruter Hafenexplosion vom 4. August 2020, nach dem Desaster im Nachbarland Syrien bis hin zum Erdbeben vom Februar 2023, nach all den Auswirkungen, die der Gazakrieg bereits seit einem knappen Jahr auf den Libanon hat, geht das, was nun seit einigen Tagen passiert, weit über alles menschlich Erträgliche hinaus. Ich stehe momentan fast täglich in Kontakt mit dem leitenden Pfarrer der Nationalen Evangelischen Kirche in Beirut (NECB), Rev. Dr. Habib Badr, mit dem neuen Hochschulpräsidenten der Near East School of  Theology (NEST) in Beirut, Dr. Martin Akkad, sowie dem scheidenden Direktor der Johann Ludwig Schneller Schule (JLSS) in Khirbet Qanafar (West Bekaa), Rev. George Haddad, und der neuen Direktorin, Ms. Odette Haddad Makhoul. Darüber hinaus hält die EMS selbstverständlich auch weitere Kontakte zu ganz unterschiedlichen Akteuren in der Region – wobei wir uns bemühen, auch unter schwierigen Bedingungen keine Gespächsfäden abreißen zu lassen, und die zu ermutigen, die sich auf allen Seiten der Konfliktlinien nach Frieden sehnen und dafür einsetzen.

Die gute Nachricht vorweg: Weder das Stadtzentrum von Beirut (Ras Beirut), wo sich die Kirche der NECB befindet, noch das Gelände der JLSS sind unmittelbar von den Kriegshandlungen betroffen. Die Einrichtungen tun ihren Dienst und stellen sich auf die erheblichen Flüchtlingsbewegungen innerhalb des Libanon ein.

  • An der Johann Ludwig Schneller-Schule hat Ms. Odette Haddad Makhoul unter diesen unsäglichen Bedingungen ihren Dienst als neue Direktorin begonnen. Sehr erfolgreich hat sie noch bis einschließlich vorgestern eine „Summer School“ durchgeführt. Jetzt beginnt das neue Schuljahr; die Registrierung von neuen Schülerinnen und Schülern hat eine erhebliche Dynamik entwickelt: Bereits zum Ende des letzten Schuljahres war das Internat völlig überbelegt, zusätzliche Internatsgruppen („Familien“) wurden im Gästehaus (es kommen ja keine Reisegruppen mehr) und in der alten Farm eingerichtet. Wie es aussieht, werden es jetzt noch mehr Internatsschülerinnen und -Schüler aus bitterarmen, notleidenden Familien werden – die davon ausgehen, dass ihre Kinder hier sicher sind! In relativer Nähe zur Schneller-Schule gab es in den letzten Tagen und Nächten erhebliche israelische Bombardements am Nordufer des Karaoun-Stausees, wo die Hizbollah offenbar sehr präsent ist. Die Druckwellen und der Lärm der Explosionen sind auf dem Schulgelände deutlich zu spüren. Auch die Straße, die durch die Bekaa-Ebene zur Schule führt, gilt nicht mehr als sicher. Meine Kollegen und ich haben daher einen Besuch im Libanon, der für den kommenden Sonntag geplant war, absagen müssen. Auf Anweisung des zuständigen Ministeriums bleiben die Schulen morgen geschlossen; Frau Makhoul ist jedoch entschlossen, den „Normalbetrieb“ der Einrichtung am Montag wieder aufzunehmen.
  • Eine andere Schule der NECB, das National Protestant College (NPC) in Kafrshima am südlichen Stadtrand von Beirut, liegt in relativer Nähe der Dahiye, jener mehrheitlich schiitischen Wohngebiete, in denen die Hizbollah sehr präsent ist, und die daher regelmäßig von der israelischen Armee beschossen werden. Die Einrichtung ist evakuiert – sie hat jedoch bislang keinerlei physischen Schaden genommen. Dies ist auch deswegen eine gute Nachricht, weil die Einrichtung erst kürzlich energetisch saniert und mit einer Photovoltaik-Anlage ausgestattet wurde, was die Evangelische Landeskirche in Württemberg großzügig unterstützt hat. Wir hoffen, dass die Schule unbeschädigt bleibt. Wann sie wieder öffnen kann, ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar.
  • An die NEST entsenden wir normalerweise in jedem Jahr mehrere Studierende der Theologie. Den letzten Jahrgang 2023/24 mussten wir aufgrund der Lage bereits Ende Oktober 2023 abbrechen – dank der Förderung von Brot für die Welt konnte das Studienjahr jedoch in Rumänien fortgesetzt und zum Abschluss gebracht werden. In den neuen Jahrgang 2024/25 konnten wir nun niemanden entsenden – und momentan wagen wir es nicht einmal, den Jahrgang 2025/26 aktiv zu bewerben. Nichtsdestotrotz tut die NEST weiterhin treu ihren Dienst – mit nur wenigen (lokalen) Studierenden. Am Sonntag (vorgestern) wurde Dr. Martin Akkad mit einem Festakt in sein Amt als neuer Hochschulpräsident eingeführt. Seine Vision ist es, die NEST zum Zentrum einer Öffentlichen Theologie und des Dialogs im Herzen der von so vielen Spannungslinien durchzogenen libanesischen Hauptstadt zu machen. Das ist eine unglaublich große Aufgabe – zu der wir Dr. Akkad von Herzen Gottes Segen wünschen.

Manche von Ihnen haben mich gefragt, wie sie in dieser Situation helfen können. Es gibt mehrere gute Organisationen, die sich im Libanon für die Menschen engagieren. Ich möchte nur eine nennen: Die Johann Ludwig Schneller-Schule (JLSS) benötigt bei der Aufnahme so vieler Kinder aus notleidenden Familien ganz sicher alle nur denkbare Unterstützung. Jede Spende ist hoch willkommen!

Mit herzlichen Grüßen, Dank für alle Gebete und guten Gaben sowie Friedens- und Segenswünschen

Ihr

Uwe Gräbe (Nahostreferent EMS) 24.09.24